Los Ángeles

Di. 24.03.2015
Kurz vor Los Ángeles wurde ich vom Busbegleiter geweckt und marschierte mit Gepäck Richtung Zentrum. An einer Kreuzung jonglierte ein Mann in beeindruckender Weise mit sechs Bällen mitten auf der Straße vor an der roten Ampel wartenden Autos und bekam von den Fahrern seinen gerechten Lohn in Form von Münzgeld. Im Zentrum bekam ich im Hostal Caupolican ein schönes Zimmerchen und sah auf dem Weg zum Abendessen die riesig wirkende Sonne untergehen.

Sonnenuntergang in den Straßen von Los Ángeles
Sonnenuntergang in den Straßen von Los Ángeles

Mi. 25.03.2015
Der Grund meines Besuchs im laut Reiseführer reizlosen Ort war die Suche nach Spuren der Vergangenheit meines Verwandten Helmut, der lange in Chile als Missionar und die letzten Jahre vor seinem Tod genau hier tätig gewesen war. Die zwei netten Damen in der Unterkunft kannten ihn nicht, machten mir aber Mut im Liceo Alemán del Verbo Divino nachzufragen. Hierhin hatten mich meine Recherchen geführt, aber ich hatte keine Antwort auf meine E-Mail bekommen. So ging ich zu dieser nahe gelegenen Schule.

Liceo Alemán del Verbo Divino
Liceo Alemán del Verbo Divino

Auf der einen Seite des umzäunten Blocks strömten gerade Schülerinnen und Schüler in gelben oder weißen T-Shirts mit Bundesadler-Schulwappen heraus. Die älteren unter ihnen trugen Hemden und manche sogar Krawatten. Es standen gelbe Schulminibusse bereit und manche Schüler wurden mit dem Auto abgeholt. Ich wollte mich nicht aufdrängen und ging zur anderen Seite, an der ich zuvor eine Klingel gesehen hatte. Nun war auch hier ein Schülerstrom und der Mann im weißen Arztkittel (vermutlich Lehrer) schickte mich zum Empfang wieder auf die andere Seite. Hier war ein Pförtner, der meinte, ich solle mal kurz warten. Daraufhin kam er mit der deutsch sprechenden Zoila wieder zurück. Diese nahm sich sofort Zeit für mich und führte mich in ein Besprechungszimmer, in dem sie mich zuerst interessiert fragte, wie wir Deutsche mit Angela Merkels Politik zufrieden sind. Dann erzählte ich von Helmut und zeigte ihr mein 20 Jahre altes Bild von ihm aus dem Internet. Sie kannte ihn und begann strahlend von seiner Intelligenz und Güte zu erzählen. Auf dem Weg zur leider abgeschlossenen zur Schule gehörenden Kirche Iglesia del Verbo Divino und zum Wohnhaus der Priester schüttelte ich dem jungen mexikanischen Pater Alejandro die Hand. Dann führte uns die Putzfrau Patricia ins Wohnhaus, wo ich den Koch René antraf. Wir gingen die Treppe hoch zu den Zimmern und klopften an einer Tür, aus der polnische Pater Andrzej herauskam und uns hereinbat. So stand ich also im Haus und im Zimmer, in dem „Padre Helmut“ seine letzten acht Jahre gewohnt hatte. Es sah wie ein schlichtes Hotelzimmer mit zusätzlichem Platz für den Schreibtisch aus. Dann kam der Koch René wieder hinzu und schenkte mir ein DIN-A5-Sterbebild mit aufgeklebtem Foto, einem der letzten, das es von Helmut gab, und mit einem Gebet und seinem Werdegang auf Spanisch. Außerdem wusste René, dass Helmut zudem für die kleine Gemeinde Chacayal eine knappe Stunde außerhalb zuständig war und wo ich sein Grab finden kann. Zoila versprach mir mich dort hinzuführen, aber zuerst durfte ich die hauseigene Kapelle betreten.

Kapelle im Priesterwohnhaus
Kapelle im Priesterwohnhaus

Mit Zoila verließ ich das Priesterwohnhaus.

Priesterwohnhaus des Liceo Alemán del Verbo Divino
Priesterwohnhaus des Liceo Alemán del Verbo Divino

An der Kirche vorbei gingen wir nochmal ins Schulgebäude.

Iglesia del Verbo Divino
Iglesia del Verbo Divino

Zoila zeigte mir noch mehr Räumlichkeiten der Schule. Im papiermäßig chaotisch aussehenden Kopierraum kramte sie in den Schränken, fand dort zwei Gebetsbücher und eine Postkarte, die Helmut gehörten, und schenkte mir diese. Vor dem Verlassen der Schule sagte sie einem Kollegen Bescheid, der auch Mathematiklehrer ist und mir einen herzlichen Händedruck gab. Und schon saßen wir im Taxi auf dem Weg zum Friedhof „Parque del Sur“. Dort gab es ein Bürohäuschen, in dem eine junge und schick angezogene Frau arbeitete und für uns in den Unterlagen nach dem genauen Ort des Grabes suchte. Mithilfe des Computers fand sie letztlich Helmuts Daten in einem riesigen von Hand geschriebenen Wälzer und führte uns über die grünen Wiesen zum Grabstein, auf dem die Namen drei weiterer Missionare standen. Die kleinen Grabsteine dieses Friedhofes waren horizontal in der Wiese verankert und bei manchen standen Blumentöpfe dabei. Außer grünen Wiesen gab es Bäume und ein paar kleine Denkmale. Zoila schlug vor, mit zudem das Schulgrundstück Fundo San José de Huaqui zu zeigen. Also fuhren wir zum anderen Ende aus der Stadt hinaus 10 km Richtung Norden. Auf der Fahrt erzählte mir Zoila, dass sie bis vor 15 Jahren Deutsch unterrichtete, dann aber zugunsten von mehr Englischstunden der Deutschunterricht komplett gestrichen wurde. Somit bekam sie andere Tätigkeiten an der Schule. Ich erfuhr auch, dass die Schüler von reicheren Familien aus der Umgebung kamen. An der Einfahrt zum Grundstück stand der freundliche Elías vor seinem Haus und ließ uns eintreten, während der Taxifahrer wartete. Auf dem Weg erklärte Zoila, dass die gesamte Schulgemeinschaft am Samstag vor der Karwoche hier zu einem gemeinsamen Kreuzweg herfährt. Es gab einen Hügel mit einem Kreuz drauf und eine Allee, die zu einer kirchlichen Grundschule (acht Jahre) mit Fußballplatz und Versammlungshaus führte.

Allee zur Escuela No. 58 San José de Huaqui
Allee zur Escuela No. 58 San José de Huaqui

Am Ende der Allee gab es auch ein Wohnhaus, aus dem sie den deutschen Padre Ernesto herausschrie, der Helmut ebenfalls kannte. Er erzählte, dass die Schule zwar in den letzten Jahren ein Defizit machte, aber Kindern aus ärmeren und schwierigeren Familienverhältnissen die Chance gab. Ich hätte auch noch einen Kaffee bekommen, aber Zoila musste zurück zur Schule und die liegen gebliebene Arbeit nachholen. Als wir mit dem Taxi wieder zur Schule zurückkamen, wurde mir bewusst, dass sie sich insgesamt drei Stunden für mich Zeit genommen hatte.

Mit Zoila vor dem Liceo Alemán del Verbo Divino
Mit Zoila vor dem Liceo Alemán del Verbo Divino

Hier standen ein Junge und ein Mädchen in den schönen Schul-T-Shirts.

Schulkinder des Liceo Alemán del Verbo Divino
Schulkinder des Liceo Alemán del Verbo Divino

Dann sagte uns der Pförtner, dass der Direktor, ohne dass ich wusste, wer das ist, mich für den nächsten Tag zum Mittagessen eingeladen hatte. Ich sollte also wieder kommen. Später wollte ich im Zentrum das Tucafe aufsuchen, das laut Padre Ernesto von einer Frau aus Helmuts und meiner Heimat betrieben wird. Dabei geriet ich in die kirchlich organisierte Demonstration gegen die Lockerung des in Chile sehr strengen Abtreibungsgesetzes. An einer Straßenecke sah ich einen jungen Mann und zwei Frauen mit einem kleinen Schild dafür. Die Demonstration lief friedlich ab: Die Polizei regelte den Verkehr und die Menschen liefen mit Plakaten und weißen und roten Luftballons koordiniert die Straßen entlang.

Anti-Abtreibungs-Demonstration
Anti-Abtreibungs-Demonstration

Es waren junge und alte Menschen, darunter ganze Familien und erstaunlich viele Frauen beteiligt. „Sí a la vida, no al aborto“ (Ja zum Leben, nein zur Abtreibung) wurde skandiert. Es gab ein Begleitfahrzeug mit Lautsprechern und eine Gruppe von Trommlern, die für eine Stimmung wie bei einem Samba-Festival sorgten. Am Ende strömten die Menschen in die Kathedrale, in der ein Gottesdienst stattfand.

Demonstranten vor der Kathedrale
Demonstranten vor der Kathedrale

Nun ging ich ins Tucafe und das Mädchen an der Kasse kümmerte sich um meine Belange. Die Besitzerin war nicht da, aber ich bekam ein Handy in die Hand, an dem sie sich meldete. Ich erzählte vom Grund meines Besuchs und sie sagte, dass sie aus Aitrach käme und für gewöhnlich in der zugehörigen Konditorei außerhalb der Stadt arbeitete. Auch ohne Begegnung blieb ich für einen Abendsnack und einen Cappuccino hier. Auf dem Rückweg hörte ich nochmal Trommeln, folgte ihnen und fand eine kleine Gruppe an einem städtischen See vor, auf der Straße gegenüber war ein Rummelplatz, sogar mit Riesenrad.

Rummelplatz
Rummelplatz

Nun war aber genug und ich zog mich in mein Zimmer zurück, um die vielen Eindrücke des Tages zu verarbeiten.

Do. 26.03.2015
Wie ausgemacht war ich um 12 am Schuleingang und durfte zum Priesterwohnhaus gehen, wo ich die Pater Ernesto, Andrzej und den jungen Conrad aus Indonesien traf. Koch René war schon vorbereitet, Andrzej über ließ mir den alten Platz von Helmut und dann lernte ich den gesprächigen Direktor, Pater Sergio kennen. Gemeinsam aßen wir Suppe, Huhn, Reis und Krautsalat. Mir wurde sogar Wein angeboten und als Nachtisch gab es typisch deutsch und zur Freude Ernestos Kartoffelpuffer mit Apfelmus. Nach dem Essen unterhielt ich mich noch länger mit Sergio über das Schulleben und er bot mir an, mich am Folgetag zum Fundo San José de Huaqui mitzunehmen, um mir noch mehr vom Land zu zeigen. Dann zeigte er mir auch die zeltförmige Schulkirche von innen.

Iglesia del Verbo Divino
Iglesia del Verbo Divino

Im riesigen Supermarkt war die Besonderheit, dass man an der Wurst- und Käsetheke eine Nummer ziehen musste. Bei Dunkelheit ging ich nochmal am Rummelplatz vorbei und im Fernsehen sah ich Bilder vom Hochwasser in der Atacama-Wüste.

Fr. 27.03.2015
Um 9 klingelte ich am Priesterwohnhaus, wo Pater Sergio schon bereit war und ich René und die Pater Andrzej und Conrad antraf. Mit seinem Pickup fuhren wir nach Huaqui und machten dort einen Spaziergang an wertvollen chilenischen Seifenrindenbäumen, australischem Eukalyptus und neuseeländischen Kiefern vorbei zu einem trüben See und zu einem neuerdings mit Algen bewachsenen See.

Zwillingssee
Zwillingssee

Leider mussten viele Bäume nach einem großen Waldbrand im letzten Jahr abgeholzt werden. Auch dieser Sommer war wieder trocken, in diesem Kalenderjahr hatte es noch gar nicht geregnet. Auf halbem Weg kamen Elías und der Deutsche Andreas, der ebenfalls auf dem Fundo arbeitet, mit einem Pickup hergefahren, um Pater Sergio für seine Arbeit in der Schule abzuholen. Andreas, der viele Jahre auf der Walz war und nun in Chile sesshaft geworden ist, spazierte mit mir zu einem von Schülern einer Forstschule gebauten Jägerstand.

Vor den Ländereien des Fundo San José de Huaqui
Vor den Ländereien des Fundo San José de Huaqui

Es war auch noch Zeit für eine abenteuerliche Pickup-Fahrt zum Fluss Huaqui.

Der Fluss Huaqui
Der Fluss Huaqui

Dann nahm ich das Angebot an, noch länger bei Andreas zu bleiben, und verabschiedete mich von Pater Sergio.

Mit Pater Sergio
Mit Pater Sergio

Nach einer Snack-Pause in der Küche in einem Schuppen war ich bei manchen Arbeiten dabei und wurde gleichzeitig noch mehr durchs 700 Hektar große Grundstück gefahren.

Alte und neu gepflanzte Bäume
Alte und neu gepflanzte Bäume

Beim Einsetzen von Markierungen für eine bevorstehende Hochspannungsleitung sangen wir spontan ”Heute hier, morgen dort“ im Beisein von Elías. Durch den Wald ging’s an weitere Stellen des Huaqui und zum See, den ich vom Jägerstand aus schon gesehen hatte. Es wuchsen Quitten, Äpfel, Hagebutten und Brombeeren und es gab Kühe sowie die Pferde des Nachbargrundstücks zu sehen. Für den bevorstehenden Kreuzweg arbeitete Andreas noch mit zwei weiteren Arbeitern zusammen: Es mussten Halogenstrahler angebracht werden und echte Lanzen gebastelt werden. Hierbei arbeiteten die vier stressfrei und gemeinschaftlich zusammen. Dann brachte Andreas mich zum Busbahnhof, half mir beim Ticketkauf und zum Abschluss gingen wir ins Tucafe.

Mit Andreas im Tucafe
Mit Andreas im Tucafe

Ich schlenderte durch die Stadt, betrachtete von der geöffneten Stadiontribüne den Sonnenuntergang und ging in das Bar-Restaurant Bukatti. Anschließend ging ich ein drittes und letztes Mal in den Mini-Laden um die Ecke. Der Besitzer Francisco freute sich über seinen deutschen Kunden, schrieb mir seine Telefonnummer auf und umarmte mich zum Abschied.

Sa. 28.03.2015
Die Dame des Hostels, die von meiner erfolgreichen Suche nach Helmuts Spuren mitbekommen hatte, verabschiedete mich mit einem Küsschen und ich trat den langen Marsch in der Hitze zum Busbahnhof an, wo ich in meinen leicht verspäteten Bus nach Valdivia stieg.